Nein, der
Film
wird nicht falsch herum abgespielt – die Welt steht
tatsächlich auf dem Kopf. Nicht nur im Film sondern bei
Jugendlichen im Allgemeinen. Die Gefühlswelten spielen
verrückt, von den Hormonen ganz zu schweigen ...
Und da setzt die Handlung von „Spieltrieb“, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Juli Zeh, ein. Ohne große Einleitung bekommen wir es sowohl mit dem komplizierten Innenleben, wie dem noch komplizierterem Aussenleben der 15jährigen Ada Fischer zu tun. Im Unterricht am Bonner Ernst-Bloch-Gymnasium ist sie völlig unterfordert, langweilt sich schrecklich, bekommt aber die besten Noten und weil sie sich auch dem Modegeschmack der restlichen Klasse, die allesamt älter als sie sind, da sie zwei Klassen übersprungen hatte, nicht anpassen will, macht sie schon mal nasse Bekanntschaft mit den Pissoirs. Durch die Verschwendungssucht ihrer Mutter, die in unfreundlicher Trennung vom Stiefvater lebt, ist deren Lebensstil in Gefahr, das Geld knapp und Adas Schulgeld schon monatelang nicht mehr bezahlt. Deswegen läuft Ada – nicht Amok – sondern Langstrecke. Ihr Deutsch- und Sportlehrer Smutek, freundlich und bemüht, aber sowohl durch die Krankheit seiner Frau als auch von seinen Schülern überfordert, hätte sie gerne in seiner neugegründeten Leichtathletikgruppe, doch als ausgeprägte Individualistin ist das nicht ihr Ding. Ihr einziger Anker ist der Geschichtslehrer Höflinger, ihr Mentor, verkrüppelt und gehbehindert, aber mit Einfühlungsvermögen und Verständnis für ihre Nöte, der als Einziger in ihr Inneres sehen kann. Und nun kommt zum neuen Schuljahr Alev El Qamar, 18 Jahre und Halb-Iraner/Halb-Franzose, in ihre Klasse, charismatisch, weltgewandt (oder zumindest gibt er sich den Anschein), nach dem Rauswurf aus zehn Schulen in beinahe ebenso vielen Ländern nicht weiter am Unterricht interessiert, aber so anders als die andern, dass sich die Gucci- und Prada-Prinzessinnen sofort um ihn scharen. Er aber hat sich Ada auserkoren – sie soll eingefangen werden um in seinem Spiel, das er offenbar über die Jahre hinweg perfektioniert hat, ein Teil zu werden. Als Protagonisten hat er sich Szymon Smutek ausgesucht und als Spielball Ada. Sie soll ihn verführen, damit er „frei“ wird. Smutek fühlt sich in Deutschland immer noch nicht angekommen; er bekommt von seiner älteren Ehefrau Magdalena die wie er aus Polen stammt, keine körperliche Nähe mehr, womit er sich einigermassen abgefunden hat, erst als er sich gegen seinen Widerstand in Ada verliebt wird er dagegen aufbegehren. Obwohl er sich gegen den Sex mit seiner Schülerin wehrt, gibt sein Körper dann doch nach und Alev filmt aus dem Hintergrund eifrig mit. Damit erpressen die beiden Smutek zu weiteren sexuellen Handlungen mit Ada, und als sie Gefahr läuft, wegen dem immer noch ausstehenden Schulgeld der Schule verwiesen zu werden, fordert sie auch Geld von ihm. Ada macht aus Liebe zu Alev dabei mit, doch als der ihr erklärt, dass alles nur ein Spiel sei, das sie schon fast gewonnen haben, und sie erkennt dass es dabei immer nur um die Demonstration seines Machtbedürfnisses ging, weigert sie sich am Finale teilzuhaben. Es wird blutig, und in der darauffolgenden Gerichtsverhandlung sagt Ada zugunsten von Smutek und gegen Alev aus. Alevs Spiel endet also nicht mit der „Befreiung“ Smuteks, sondern mit der Befreiung Adas. Soweit kurz umrissen die Handlung. Was hat mir jetzt am Film gefallen und was nicht? Ich fange mit letzterem an: Gestört hat mich die leider sehr aufdringliche Hintergrunduntermalungsmusik. Sie ist gut und passend, war aber in vielen Szenen so vorherrschend, dass mir die handelnden Charaktere beinahe entglitten wären. Ein bisschen weniger davon oder zumindest leiser, wäre besser gewesen. Gerd Baumann ist eigentlich ein Meister im Einfangen und Untermalen von Szenen, teilweise so einfühlsam, dass die Musik gar nicht bemerkt wird, wie z.B. bei Rainer Kaufmanns „In aller Stille“, oder Marcus H. Rosenmüllers „Wer früher stirbt ist länger tot“, beide ebenfalls mit Maximilian Brückner. Schade, dass er es bei dem Film nicht so hinbekommen hat. Bei den Nachtszenen hat es die digitale Nachbearbeitung eindeutig übertrieben. Sie heben sich so unglücklich von der allgemeinen Farbkomposition des restlichen Films ab, stören die Szenen und geben der ausgezeichneten Kameraarbeit keinen Raum. Auch haben sowohl der Schulhof wie der Bergwald dieselbe Nachtfärbung, und die sollte bei Gebäuden in der Stadt und Freiluft in der Natur doch unterschiedlich sein. Die Stimme von Michelle Barthel im Voice Over nervt etwas; da hätte es nicht geschadet, wenn in der Tonnachbearbeitung ihre Stimmlage etwas tiefergefahren worden wäre. Als Sprechstimme in den Spielszenen funktioniert sie aber gut. Den „Erklär-Bär“, der Adas Aussage vor Gericht mit den Bildern unterlegt, wie es sich eigentlich zugetragen hat, hätte es nicht gebraucht. So lange war es ja nicht her dass diese Szenen im Film zu sehen waren; sie waren noch frisch im Gedächtnis. Hätte es sich aber um vorher nicht gezeigte Bilder gehandelt, die im echten Gegensatz zu Adas Worten stünden, wäre das aber anders. Ein bisschen viel „Product Placement“ in Grossaufnahmen, aber so was gibt es inzwischen in den meisten Filmen und es schont halt das Budget. Das war‘s auch schon. Und damit zu dem was mir an „Spieltrieb“ gefallen hat: Wenn ich jetzt schreiben würde: „Alles andere“, würde das zwar stimmen, wäre aber etwas dürftig. Also: Im Vergleich zum Roman wird das Vorgeplänkel früherer Schulerlebnisse Adas ausgespart, nur beiläufig in ein, zwei Sätzen erwähnt, und schon ist der Zuschauer mittendrin in Schulleben und Gefühlschaos. Die Handlung konzentriert sich auf drei Personen: Ada (Michelle Barthel), Alev (Jannik Schümann) und Smutek (Maximilian Brückner). Der Lehrer ‚Höfi‘ Höflinger (Richy Müller), der Schulleiter Teuter (Helmut Berger), Smuteks Frau Magdalena (Sophie von Kessel), Adas Mutter Patrizia (Ulrike Folkerts) und die Mitschüler Grüttel (David Schütter), Toni (Robert Alexander Baer) und Odetta (Elisa Schlott) sind mehr Stichwortgeber um die Handlung vorantreiben und nicht wie im Roman „mittendrin dabei“.
Die Kameraarbeit von Andreas Berger (der es in Gregor Schnitzlers „Spieltrieb“ geschafft hatte, Bamberg so warm wie erdrückend und Buenos Aires so schön und gleichzeitig kalt wie selten zuvor aussehen zu lassen) ist wieder einmal gut gelungen; meist habe ich sie nicht mal bemerkt, sondern dachte, ich sähe es selbst. Er ist nah dran an den Figuren, erdrückt sie aber nicht sondern lässt ihnen Luft. Die Über-Kopf-Aufnahmen sind grandios geworden, und das warme Licht Griechenlands löst am Ende endlich auch die Spannung. Ich habe zwar Juli Zehs Roman gelesen, aber das war bald nach dessen Veröffentlichung 2004. Meine Vergleichsmöglichkeiten zwischen dem Drehbuch von Kathrin Richter und Jürgen Schlagenhof und dem Roman sind daher überschaubar. Was für den Film von Vorteil ist, ist, dass sich hier die Handlung auf drei Hauptfiguren und auf ein Schuljahr beschränkt. So wird die Geschichte kondensiert und nicht mit ausufernden Nebenschauplätzen überfrachtet und der Zuschauer kann den handelnden Personen besser folgen. Es ist schön dass hier das Ende offen gelassen wird, und auch dass die Erzählerin gewechselt hat, ist positiv. Im Roman gibt es zusätzliche Spannung durch diese Sicht von außen, aber das würde im Film nur stören. Die Charaktere im Film mögen zugespitzt sein, aber in abgeschwächter Form laufen sie tatsächlich so durchs Leben. Von Regisseur Gregor Schnitzler kannte ich vorher nur den SR-Tatort „Das schwarze Grab“ von 2008 und den Film „Resturlaub“ von 2011, beide ebenfalls mit Maximilian Brückner - deswegen hatte ich diese auch angeschaut. Den Tatort fand und finde ich immer noch gut, den Film eher weniger. Ich kenne ja die Brückner‘sche Lust auf herausfordernde Rollen, mit Charakteren die in Situationen kommen, die er lieber im Film als im wahren Leben bewältigen möchte. Gregor Schnitzler führt vor allem seine jugendlichen Darsteller sicher durch die Fallgruben. Man merkt es diesem Film an, dass am Set die Stimmung so entspannt wie möglich war – nicht ganz einfach angesichts der Thematik, aber unbedingt notwendig. Er nimmt Schauspieler wie Zuschauer mit auf diese Reise ins Innenleben dieser Charaktere, lässt sie aber nicht alleine. Mein Fazit: Der Film zeigt eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, in der traditionelle Werte nicht mehr viel gelten und zumindest vordergründig nur das Recht des Stärkeren gilt – also eigentlich ein Abbild des „wahren Lebens“, nicht nur von Jugendlichen. Er zeigt auch wie leicht ein Unschuldiger zum Schuldigen gemacht werden kann. Dieser Film ist einiges, aber sicher nicht langweilig. Nur zur Freigabe ab 12 Jahren habe ich gewisse Vorbehalte; als Schulvorführung geht das in Ordnung, da ja der Roman ab der 11. Klasse im Unterricht gelesen wird, aber ein Kinobesuch ohne gesprächswillige Erwachsene sollte gut überlegt werden. Allerdings – gutgelaunt werden zumindest diese kaum aus der Vorstellung kommen. In einer Beschreibung des Romans (und nein, die Quelle weiß ich nicht mehr) habe ich folgende Aussage gefunden: „Mir hat das Buch nicht gefallen und ich habe die Hauptfiguren mit Leidenschaft gehasst. Trotzdem, oder gerade deshalb – und wegen Juli Zehs wundervoller Sprache, hat es das Zeug zu einem meiner Lieblingsbücher.“ Mit dem Film geht es mir ähnlich – er hat mir nicht gefallen, aber ich finde ihn toll! Text (und Screenshots) © EFi, Sept. 2013
Die
Deutschland-Premiere ist am
1. Oktober 2013 in München im City Kino.
Die Europa-Premiere ist am 4. Oktober 2013 beim 9. Zürich Filmfestival im Arena Kino. Die Asien-Premiere ist am 4. Oktober 2013 beim 18. Busan International Filmfestival in Südkorea. . .
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