Der Räuber Kneißl
 Bühnenfassung von Christian Stückl - unter Verwendung von Texten von Martin Sperr


  Münchner Volkstheater 2003 - 2007

Mathias Kneißl (* 12. Mai 1875 in Unterweikertshofen, † 21. Februar 1902 in Augsburg), genannt Kneißl Hias, Räuber Kneißl oder auch Schachenmüller-Hiasl, war das älteste von sechs Kindern armer Gastwirtsleute, die 1886 die Schachermühle bei Sulzemoos erwarben. Mit 16 wurde er das erste Mal eingesperrt, weil seine Familie als Opferstockdiebe verdächtigt wurde. Sein Vater starb 1892, als ihn die Polizei abtransportierte. Daraufhin ging Kneißl mit seinen Brüdern auf Raubzüge. 1893 wurde er zum zweiten Mal verhaftet. Sein jüngerer Bruder Alois hatte bei einem Festnahmeversuch einen Polizisten angeschossen und starb nach vier Jahren im Gefängnis an Schwindsucht. Mathias Kneißl wurde zu fünf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Nach seiner Entlassung im Februar 1899 arbeitete er als Schreiner in Nußdorf am Inn. Nach einem halben Jahr wurde Kneißl entlassen, fand aber wegen seines schlechten Leumunds keine feste Anstellung mehr.
Zusammen mit einem Komplizen unternahm er daraufhin erneut Einbrüche. Zwei Jahre lang wurde er von der Polizei gesucht. Nachdem sein Komplize gefasst worden war, setzte er schwerbewaffnet seine Raubzüge alleine fort, wobei er hauptsächlich Einödhöfe aufsuchte. Bei einem Festnahmeversuch kam es am 30. November 1900 in Irchenbrunn zu einem Schusswechsel, bei dem zwei Polizisten so schwer verletzt wurden, dass sie später starben. Drei Monate später, im März 1901, wurde er im Aumacheranwesen in Geisenhofen von 60 Polizisten gestellt. Diese beschossen das Haus, wobei Kneißl durch einen Treffer in den Unterleib schwer verletzt wurde.
Vom 14. bis 19. November 1901 fand vor dem Schwurgericht Augsburg der Prozess gegen ihn statt. Bei der Gerichtsverhandlung, die von der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, soll er gesagt haben: "Ich kann kein Unrecht leiden. Ich kann mich nicht beugen, lieber geh' ich selber zugrunde." Berühmt ist Kneißl für das angebliche Zitat "De Woch fangt scho guat o" bei der Urteilsverkündung. Oft wird behauptet, er habe dies am Tag seiner Hinrichtung ausgesprochen, doch das war ein Freitag.
Der Gerichtsvorsitzende bat in einem Brief seinen Minister, das über Kneißl verhängte Todesurteil nicht vollstrecken zu lassen, was der Minister aber ablehnte. Kneißl wurde mit der Guillotine hingerichtet, und sein Kopf wurde in der Münchner Anatomiesammlung aufbewahrt, bis er im 2. Weltkrieg von einer Bombe zerstört wurde.
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Florian und Maximilian Brückner
Alois Kneißl (Florian Brückner) und sein grosser Bruder Mathias (Maximilian Brückner)


Premiere am 4. Dezember 2003

Besetzung:
Maximilian Brückner - Mathias Kneißl
Florian Brückner - Alois Kneißl
Hans Schuler - Vater Kneißl
Ursula Burkhardt - Mutter Kneißl
Agnes Staber - Katharina Kneißl
Alexander Duda - Schätzler, Großbauer
Michael Lippold - Josef Schreck
Peter Mitterrutzner - Flecklbauer
Katja Müller - Mathilde Danner
Monika Manz - Merklbäuerin
Martin Spitzweck - Seitz, Jäger
Hubert Schmid - Schreiner
Knechte/Jungbauern: Dominikus Brückner, Andreas Buntscheck, Andreas Engelmann, Franz Staber, Joseph Staber, Martin Weyerer
Polizisten: Franz Maier, Florian Brückner, Franz Bayer, Jörg-Uwe Kehrstein, Florian Schmidt-Bockelmann
Stab:
Regie: Christian Stückl
Bühne und Kostüme: Marlene Poley
Dramaturgie und Regieassistenz: Kilian Engels
Lichtdesign: Günther E. Weiß
Musik: Junge Riederinger Musikanten

Einladung zu den 22. Bayerischen Theatertagen 2004 in Regensburg. Vorstellung am 23. Juni 2004 im Velodrom.


Die Familie Kneißl: Vater (Hans Schuler), Mutter (Ursula Burkhardt), Mathias (Maximilian Brückner), Katharina (Agnes Staber)

Mathias und Alois Kneißl

Ich will bayerische Stoffe
Der Bayerische Hiasl, ein echter Räuberhauptmann, wurde 1771 noch erdrosselt, gerädert und gevierteilt. Mathias Kneißl "bloß" guillotiniert. 1902 hatte der Prinzregent Luitpold das Gnadengesuch abgelehnt, obwohl Kneißl, 1875 in Unterweikertshofen bei Dachau geboren, keine Tötungsabsicht nachzuweisen war. Münchens Volkstheater-Prinzipal Christian Stückl bringt jetzt nach den Schiller'schen "Räubern" diesen bayerischen Gauner auf die Bühne.
Das Stück haben er und das Ensemble erarbeitet. Maximilian Brückner spielt in "Räuber Kneißl" die Titelfigur. Wieder mit dabei im Bühnen-Team die Jungen Riederinger Musikanten. Premiere ist morgen Abend.
Warum haben Sie als Intendant und Regisseur es sich auch noch angetan, ein Stück zu entwickeln?
Christian Stückl: Schon im letzten Sommer, bei der "Geierwally", hatten wir die Idee, wieder einen bayerischen Stoff anzupacken. Thoma oder Ganghofer - wie damit umgehen? Da ist mir das Drehbuch Amerika-Blues von Martin Sperr zum Kneißl in die Hand gekommen. Aber ein Drehbuch ist eben kein Drama. Der Sperr ist unsere Grundlage, in Absprache mit dem Verlag, den Rest haben wir dazugebaut.
Am Volkstheater war schon einmal der Kneißl aktiv - in Wolfgang Maria Bauers "Der Schatten eines Fluges".
Stückl: Der Wolfi war, glaub' ich, ganz stark von Koltès' "Roberto Zucco" beeinflusst, hat den Text auf ganz wenige Personen begrenzt. Und die Münchner haben das Stück auch gar nicht recht als Kneißl-Geschichte wahrgenommen. Ich wollte mehr Figuren, um auch die Riederinger einbinden zu können.
Wo setzt Ihr Stück Schwerpunkte?
Stückl: Sperr hat bestimmte Episoden in der Kneißl-Biografie nur angerissen. Es gab keinen echten Gegenspieler, aber den braucht man auf der Bühne einfach. Wir haben den historischen Baron Schätzler - Grundbesitzer als Kontrast zu den Armen - zum Gegenspieler gemacht. Die Liebesgeschichte wurde natürlich auch ausgeweitet.
Erzählen Sie in Ihrem Projekt mehr die Lebensgeschichte von Kneißl, von diesem armen Hund, oder eher, wie die Figur ausgeschlachtet beziehungsweise stilisiert wurde?
Stückl: Wir wollen eigentlich alles erzählen, nicht nur vom Bösewicht. Kneißls Ausraster, wie er sich stilisiert hat, wie er von der Bevölkerung hochgejubelt wurde. Beim Woyzeck interessiert einen ja auch nicht nur der arme Militär-Bader. Ich will eine ganze Figur erzählen; nicht nur wie er durch die sozialen Umstände zum Verbrecher wurde, sondern auch wie er sich selber 'neireitet.
Nach Schillers "Räubern" wieder ein Gangster aus der alten Zeit. Warum nicht ein jugendlicher Gewalttäter aus dem Jahr 2003?
Stückl: Ich will ein Gegengewicht zum Komödienstadl und eine Kontinuität mit bayrischen Stoffen schaffen. Diese Sparte wird weder von den Kammerspielen noch vom Staatsschauspiel bedient. Außerdem: Wir wollten ein Mehmet-Projekt machen - aber Baumbauer war schneller. Ich möchte unbedingt die junge Blasmusik dabei haben. Wo bindest du die an ein heutiges Stück an; dazu würde eine andere Musik gehören. Ich habe also ganz bewusst ein Umfeld wie bei der "Geierwally" gewählt.
Ärgern Sie sich manchmal, wenn Sie sehen, dass die Kammerspiele viel mehr Geld von der Stadt bekommen als das Volkstheater, aber das künstlerische Ergebnis dem gar nicht entspricht?
Stückl: Nein. Man weiß, dass nicht jede Arbeit immer so perfekt funktioniert. Was mich ärgert, ist eher, wenn Kritiker uns mit den Kammerspielen vergleichen. Schließlich können wir uns nicht die Regisseure oder Schauspieler leisten, die sich Baumbauer engagieren kann. Es ist was Besonderes, wenn zum Beispiel August Zirner bei mir in Albees "Ziege" spielt - aber da bin ich schon an den Grenzen meiner Finanzen.
Müssen Sie bei der augenblicklichen Geldnot der Stadt zusätzlich sparen?
Stückl: In diesem Jahr noch nicht. Wie viel wir dann zur Konsolidierung beitragen müssen, werden wir sehen ...
Es gibt viele Lieder über den Mathias Kneißl. Wie gehen's die Jungen Riederinger Musikanten an?
Stückl: Die haben daheim einen neuen Wirtshaussaal - und basteln da viel herum. Nicht alles ist Eins-zu-eins-Blasmusik. Der Kneißl wollte nach Amerika auswandern, sein Traum: Da hab' ich gesagt, probiert's doch in die Richtung was aus - jetzt gibt es einen Blues. Für die Riederinger ist die Probenphase echt hart. Die arbeiten ja alle: um fünf Uhr raus ausm Arbeitsgwand, hierher fahren, auf die Bühne, nachts um eins wieder heim...
Das Gespräch führte Simone Dattenberger, Münchner Merkur, 2. Dezember 2003







Der Kini der kleinen Leute
"Der Räuber Kneißl" in der Bühnenfassung von Christian Stückl am Münchner Volkstheater
Der Räuber Kneißl war ein kleiner unscheinbarer Mann aus Unterweikertshofen. Einer, der sich nicht ungerecht behandeln lassen wollte. Mehr nicht. Trotzdem ist aus Mathias Kneißl, dem "Schachermühl Hiasl" eine Legende geworden. Ein bayerischer Robin Hood, ein tragischer Volksheld, außerdem der Namenspatron eines Bieres und einer Oldtimer-Ralley. Die Geschichte des Mathias Kneißl, der 1902 mit 25 Jahren in Augsburg auf der Guillotine starb, hat die Menschen seither fasziniert. Es ist eine Geschichte, die vom Ausbruch aus der Enge der ländlichen Welt, vom Aufbegehren gegen die Obrigkeit berichtet. Eine Legende, die oft dazu inspiriert hat, den tragischen Kampf des jungen Mannes literarisch zu verarbeiten.
In einer bayerischen Fassung und mit der Musik der Jungen Riederinger Musikanten bringt das Volkstheater nun das Leben des Räubers Kneißl (Maximilian Brückner) auf die Bühne. Regisseur Christian Stückl erzählt die Geschichte eines Mannes, der versucht, sich aus den Zwängen seines Umfelds zu befreien aber stets scheitert. Die schiefe Bahn, die sein Bruder Alois (Florian Brückner) mit seinem Kumpan Josef Schreck (Michael Lippold) einschlägt, schleudert auch den rechtschaffenen "Schachermühl Hiasl" aus der Bahn seines zwar armseligen aber unbescholtenen Lebens. Zu unrecht landet Mathias für fünf Jahre im Zuchthaus und kriegt nach seiner Entlassung keinen Fuß mehr auf den Boden. Der Großgrundbesitzer Schätzler (Alexander Duda), der die Familie Kneißl schon vor der Verhaftung wegen angeblicher Wilderei gegängelt hat, legt Mathias die Steine in den Weg, über die er zwangsläufig in seine kriminelle Karriere wider Willen stolpern muß. Nur in seinem Dasein als Räuber atmet Kneißl die Freiheit, um die er so verzweifelt gekämpft hatte.
Dabei interessiert sich Regisseur Stückl weniger für die Darstellung historischer Fakten. Seine Inszenierung stellt vielmehr den Kampf eines Mannes gegen die Zwänge, die ihn fesseln und letztlich zerstören in den Mittelpunkt. Stückl will keine Legende erzählen, sondern einen aktuellen Kampf in der Gegenwart schildern.
Sebastian Herrmann, Süddeutsche Zeitung, Extra, 4. Dezember 2003



Die Jungen Riederinger bei einer Probe. Rechts vorne Maxi, ganz rechts Christian Stückl (von hinten)


Redlichkeit und Anarchie
Ja, nach Schillers "Räubern" gehört auch das auf die Bühne des Münchner Volkstheaters. Weinen und lachen können, mitfühlen mit der geschundenen Kreatur, sich mitfreuen bei der Hatz auf die Obrigkeit. Sentiment und Gaudi. Heimatschnulze und Sozialdrama. Blasmusik und Gesang. Das alles ist "Der Räuber Kneißl", wie er jetzt in der Regie von Christian Stückl Premiere hatte.
Aus den vorliegenden Materialien zum Fall Kneißl (1875-1901) hat Stückl unter Verwendung von Texten von Martin Sperr eine eigene Bühnenfassung erstellt. Mit Hauptaugenmerk auf die wiederholten, aber aussichtslosen Versuche Mathias Kneißls zu einem anständigen Leben. Und auf den Konflikt mit Großbauer Schätzler, der hier zum gefährlichsten Gegenspieler Kneißls wird.
Für Stimmung und Milieu hat Stückl eine Schar wilder Burschen auf der Bühne versammelt. Als schlag-, schieß- und trinkfreudige Dörfler und Knechte fetzen, turnen und toben seine Schauspieler über die Szene und lassen sich, wenn's sein muss, dennoch Zeit für Momente der Ruhe, der Besinnung, des Dialogs. Oder der Musik. Dafür sorgen - wie schon bei der "Geierwally" - die Jungen Riederinger Musikanten, die auch Mitakteure sind. Authentisch und unwiderstehlich in ihrem schonungslosen Draufgängertum. Hasardeure der Szene, ob mit oder ohne Trompete, Basstuba und Horn.
Dass die Geschichte, die in ihrer anfänglichen Langatmigkeit doch die straffende Hand eines Dramatikers vermissen lässt, dennoch über zwei Stunden interessiert und unterhält, liegt zum einen an Stückls bemerkenswerter Fähigkeit zu großen theatralischen und poetischen Bildern sowie an seiner unangestrengten, anfeuernden künstlerischen Kraft, die Profis und Laien zu einer Einheit formt. Zum anderen an dem hochbegabten jungen Schauspieler Maximilian Brückner, der mit Leidenschaft und Sensibilität die Kneißl-Figur in all ihren Widersprüchen überzeugend darstellt. Ein Junge zwischen Redlichkeit und Anarchie. Gewaltbereit und manchmal zärtlich. Opfer und Täter. Als zweites schauspielerisches Schwergewicht in dieser Aufführung erweist sich Alexander Duda als so schlauer wie Macht ausübender Großbauer Schätzler. Aber hier geben - in höchstem Maße engagiert - alle ihr Bestes. Auch Marlene Poley, die eine raffinierte Bretter-, Wände- und Brückenkonstruktion in Schwarz auf die Bühne gestellt hat, von schöner und wandelbarer Zweckmäßigkeit.
Fragwürdig in dieser Inszenierung bleiben dennoch zwei Dinge. Erstens: Stückl verlegt die Geschichte vom Ende des 19. ans Ende des 20. Jahrhunderts. Die unvorstellbare Armut und Ausbeutung, die Menschen wie Kneißl ins Verbrechen trieben, stimmt 100 Jahre später so nicht mehr. Und zweitens: Aus diesem Zeitsprung ergibt sich, dass der Bühnenmord an den Dorfgendarmen insofern für Unbehagen sorgt, weil sie nun in die Polizeiuniform von heute gesteckt wurden.
Wermutstropfen in einem von der Atmosphäre her insgesamt gelungenen Abend. Am Ende Heiterkeit und lachende Gesichter. Nur Puristen und Geschmäckler rümpfen hier die Nase.
Sabine Dultz, Münchner Merkur 5. Dezember 2003




Blut, Schweiß und Tränen
Christian Stückls "Räuber Kneißl" am Volkstheater
Bis sie 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, besaß die öffentlich zugängliche Sammlung der Münchner Anatomie ein Exponat von ganz besonderer Anziehungskraft. Es war dies der nachgebildete Schädel des Mathias Kneißl, des so genannten "Räuber Kneißl", der, bis sie ihm 1902 den Kopf abschlugen, die Gendarmerie in der Gegend um Dachau auf Trab gehalten hatte. Er war ein Urenkel im Geiste des Mathias Klostermaier, den man als "Bayerischen Hiasl" kennt. Zwei vermeintlich romantische Robin-Hood-Gestalten, die das Wild der hohen Herrschaften erlegten, damit die kleinen Leute nicht verhungern mussten.
Die schöne bayerische Mythenwelt ist die eine Sicht der Dinge, die andere die der sozialrevolutionären Aufbegehrer. Die Wahrheit ist vermutlich schlichter: Der Kneißl und der Hiasl kämpften um ihr Überleben. Für ein kleines bisschen Leben in verbrunzten Wirtshäusern, in düsteren Stuben, in denen ein karges Essen auf dem Tisch steht. Und das ist vielleicht die schönste Leistung von Christian Stückls "Räuber Kneißl"-Adaption, inspiriert von Martin Sperrs Film über selbigen: dass man ein Gespür dafür kriegt, wie unglaublich mies das Leben der kleinen Leute gewesen sein muss. Doch Stückls Doku-Drama ist letztlich eine leicht psychologisierende Moritat (was ein Widerspruch in sich, aber dennoch richtig ist), und deshalb ist es reichlich wurscht, ob wir uns im Dachauer Hinterland um die Jahrhundertwende befinden oder irgendwo in irgendeiner Zeit, die heute sein könnte. Weil wer Geld hat, immer mehr davon kriegt, wer keines hat, aber in den Abgrund rutscht.
Stückl hat in seinem ersten Jahr am Volkstheater einiges gelernt. Das Konzept, das er in der "Geierwally" das erste Mal ausprobierte, nämlich Volkstheater tatsächlich aus dem Volk heraus zu entwickeln, homogenisiert er im "Kneißl", allerdings ohne es zu glätten. Die Sprache galoppiert fröhlich durch das weite Land der bairischen Dialekte, die Jungen Riederinger Musikanten blasen Leitmotive und wilde Polkas, die Akteure spielen mit beeindruckender Kraft, die ihnen im zweiten Teil ein wenig auszugehen droht, wenn sich die Aufführung zwischenzeitlich ans Bildhafte verliert.
Dennoch ist das Tempo über weite Strecken atemberaubend. Der Sog, der den unfreiwilligen Verbrecher Kneißl in den Abgrund zieht, wird auf der ziemlich genialen, ausweglosen Gefängnisbühne von Marlene Poley zum Strudel des verzweifelten Ichs, das den Zuschauer an die Hand nimmt und mitreißt in einen Schwindel aus Zorn und Leidenschaft. Das ist tatsächlich Volkstheater heute, ein bisschen albern vielleicht, aber sprotzend vor Gift, Blut, Schweiß und Tränen aus jeder Pore von Schauspielern wie Monika Manz, Alexander Duda, Maximilian Brückner und Katja Müller. Kneißl ist kein Romantiker, kein Held und schon gar kein Mythos. Er ist eine strahlende, stinkende Sau.
Egbert Tholl, Süddeutsche Zeitung, 6. Dezember 2003

Nach der Haftentlassung versucht Mathias die ehrliche Arbeit als Schreiner zu behalten und mit Mathilde glücklich zu werden, am liebsten in Amerika

Es ist ein Elend mit der Armut
Christian Stückl inszeniert "Der Räuber Kneißl" im Münchner Volkstheater
Es wird ja keiner kriminell geboren. Es ist die Gesellschaft, die Verbrecher macht. Diese zugegeben etwas schlichte Botschaft der 68-er Generation steckt hinter Martin Sperrs 1971 entstandenem Fernseh-Drehbuch über den "Räuber Mathias Kneißl". Aber von Martin Sperr dürfen wir hier nur ganz, ganz leise schreiben. Nach dem Eklat um dessen "Jagdszenen aus Niederbayern" hat sich Volkstheater-Chef Christian Stückl diesmal abgesichert und spielt seine neue Inszenierung ganz ohne Autor, als Bühnenfassung von Christian Stückl unter Verwendung von Texten von Martin Sperr. Die Blockade der Sperr-Erben wird damit noch um ein Stück bizarrer: Juristisch betonierte Totenruhe kann ja doch nun nicht im Interesse des Dichters sein.
Ob es die Inszenierung ist, steht auf einem andern Blatt (aber das ist immer und bei jedem Autor so, der nicht mehr mitreden kann). Stückl malt in der ersten Hälfte breit und zäh das Elend im Underdog-Milieu aus, in dem Kneißl aufwächst. Sieht alles ziemlich hasenbergelich-heutig aus in der Ausstattung von Marlene Poley - und die Frage drängt sich auf, wo der Kneißl seine Bauernschläue hergenommen hat in diesem Irrenhaus zwischen der dauernd keifenden Mutter-Domina (Ursula Burkhart), dem längst um jeden Rest Verstand gesoffenen Vater (Hans Schuler), dem schachterlteufelig-debilen Bruder (Florian Brückner), dem assigen Untermieter Schreck (Michael Lippold) der allein durch sein Hochdeutsch schon zur Bosheit prädestiniert scheint und dem jovial-fiesen Großbauern Schätzler (Alexander Duda).
In der zweiten Hälfte wird dann die - sehr frei mit der historischen Wirklichkeit hantierende - eigentliche Räuber-Karriere des Mathias Kneißl abgehandelt: zu knapp für wirkliche (Er)Klärungen, zu ausführlich selbstverliebt in breit ausgepinselte Details. Da müßte ganz dringend noch die Schere ran, da fehlt ganz eindeutig die formale Stringenz. Die versucht Stückl mit seiner theatralen Leibgarde, den "Jungen Riederinger Musikanten", die als Jungbauern und Knechte auch ganz prima Figur machen - bloß eben mit ihrer Blasmusik mehr eingepappt als wirklich eingearbeitet sind.
Der Versuch ist deutlich erkennbar: zwischen ironisch distanzierter Räuberballaden-Romantik und real existierender Elends-Geschichte einen Weg zu finden. In diesem Zwiespalt hat sich Stückl verfranzt.
Katja Müller als Kneißls Geliebte Mathilde ist eine überzeugend heutige junge Frau (mit, wie im ganzen Stück, zu wenig geformter Sprache). Das Erlebnis des Abends ist Maximilian Brückner in der Titelrolle: erst ein sensibler Junge in der falschen Umgebung, dann ein mit Charme und Witz hinreißend jonglierender Verlierer der herrschenden Verhältnisse. Der lohnt den Abend.
P.S.: Es wird heftig bairisch gesprochen, und nicht immer sehr deutlich artikuliert. Wer nicht von hier ist oder keinen Leistungskurs "Bairisch als Fremdsprache" absolviert hat, wird nicht viel verstehen ...
Rolf May, Tages-Zeitung, 6./7. Dezember 2003


Der Hias und der Flecklbauer

Die Arbeit als Schreiner hat der Hias verloren, also wird er wieder zum Räuber


Ein räudiges Landleben
Jagdszenen im Volkstheater: Christian Stückls "Räuber Kneißl"
Manchmal geht es auf der Bühne des Volkstheaters zu wie beim Karl-May-Spiel: Die Büchsen krachen, bis so manche Rothaut bleich würde. Aber der Wilde Westen ist nur des Räubers Kneißl Sehnsuchtsziel - im Land, wo die "Indianerweiber" und unermeßlicher Reichtum locken, wird er nie ankommen. Er kam nur bis Augsburg, wo der bayerische Obrigkeitsstaat mit dem Ende 1901 vollstreckten Todesurteil an dem noch zu Lebzeiten zum Volkshelden mythisierten Räuberhauptmann ein Exempel statuieren wollte. Christian Stückl, Autor und Regisseur von "Räuber Kneißl" an seinem Volkstheater, nimmt sich viel Muße, die Zeit ausgangs des 19. Jahrhunderts als sozialen Brennpunkt zu entlarven. Aber die dramaturgisch wenig wirksame Anhäufung bäuerlichen Elends rund um den mit karger Kost gedeckten Küchentisch macht die erste Stunde trotz der gelungenen Actioneinlagen etwas zäh.
Erst, wenn kurz vor der Pause der Tisch brennt und es unter dem Bretterboden glüht wie in Jörg Immendorfs "Café-Deutschland"-Bildern (Ausstattung: Marlene Poley), weitet sich der Misthaufen-Naturalismus. Der zweite Teil erscheint wie ein anderes Stück: Gleich die erste Wirtshaus-Szene entwickelt, nicht zuletzt durch den rustikalen Sound der Jungen Riederinger Musikanten, ungeheuren Schwung.
Stückls Inszenierung ist von einer stets gewaltbereiten Körperlichkeit beherrscht. Maximilian Brückner in der Titelrolle zeigt eine Persönlichkeit mit brennender Lunte, die sich - mal Nervenbündel, mal Nervensäge - an der Unterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit aufreibt. Beim Bemühen, nicht in die Romantik-Falle zu tappen, blieb allerdings auch die Emotionalität des Stoffes auf der Strecke. So kann die Liebe Kneißls zu Mathilde (Katja Müller) in einer Eifersuchtsszene nur behauptet werden. Um so liebevoller sind die schrägen Vögel gezeichnet: Michael Hippold als weiser Alt-Hippie Josef Schreck, Peter Mitterrutzner als Merklbauer von vitaler Greisenhaftigkeit und vor allem Monika Manz als dralle Merklbäuerin mit pragmatisch verhandelbarer Libido.
Mathias Hejny, Abendzeitung, 6./7. Dezember 2003


Kneißl allerorten, jetzt auch im Volkstheater
Regisseur Stückl recherchierte in Maisach und im Schöngeisinger Bauernhofmuseum Jexhof
Fürstenfeldbruck - Im Landkreis haben sie ihm bereits im vergangenen Jahr die Ehre erwiesen: dem Räuber Kneißl, der seinen legendären Ruhm vor allem dem Tatbestand verdankt, daß er die Polizei im Brucker und Dachauer Hinterland monatelang an der Nase herumgeführt hat. Die Staatsgewalt blamiert! - das taugte den so genannten kleinen Leuten.
Die Ausstellung, die dem Kneißl im Jexhof gewidmet war, ist nun schon wieder seit über einem Jahr abmontiert, da bricht - deutlich verspätet - in München das Kneißl-Fieber aus: Am Volkstheater ist der Volksheld auf der Bühne gelandet. In Anlehnung an ein Drehbuch des Dramatikers Martin Sperr für Reinhard Hauffs kritischen Heimatfilm "Mathias Kneißl" (1970) hat Volkstheater-Intendant Christian Stückl seine eigene Spielfassung gebastelt. Simpler Titel: "Der Räuber Kneißl". Mit Räuberromantik hat Stückl nichts am Hut. Wie schon Sperr zeigt er den Kneißl als Gauner wider willen; als einen, den erst Armut und Ausgrenzung auf die schiefe Bahn geraten lassen.
Manchmal rutscht Stückl dabei ab in den Sozialkitsch. Streckenweise gelingt dem Regisseur aber auch saftiges Bauerntheater. Die Darsteller dazu hat er, allen voran Max Brückner in der Titelrolle, einen strubbelig-blonden Charakterschädel und hoch talentierten Nachwuchsschauspieler, dem man die Entwicklung vom Outcast zum Outlaw jederzeit abnimmt.
Für sein Kneißl-Stück am Volkstheater hat Stückl übrigens Feldforschung betrieben: gemeinsam mit seinem Dramaturgen fuhr er nach Maisach, um sich bei den Brauern des dunklen Räuber-Biers Kneißl-Histörchen kredenzen zu lassen. Auch ein Besuch am Jexhof stand am Programm. Für die Ausstellung war's dort schon zu spät, aber immerhin: der aufschlußreiche Katalog dazu war noch zu haben.
Historisch akribisch ist die Kneißl-Hommage des Münchner Volkstheaters dennoch nicht geworden. Was nicht weiter tragisch ist: Geschichte und Geschichten waren beim Räuber Kneißl nie leicht auseinander zu halten. Andernfalls wäre er ja auch kein bayerischer Mythos geworden. Für alle Kneißl-Treuen ist das neue Stück am Münchner Volkstheater ein Muß.
Christoph Leibold, Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2003

Ein Erholungsbad zur Entspannung auf der anstrengenden Flucht vor der Obrigkeit: Mathias Kneißl (Maximilian Brückner) und die Merklbäuerin (Monika Manz)

Ein Volksheld und sein Ende auf dem Schafott
Stückl inszeniert 'Räuber Kneißl'
München - Dass auch die Geschichte Bayerns ihre Figuren, ihre Helden, ihre verkörperten Mythen hat, mag beim "elitären" Theaterpublikum meist mit einem Anflug von Arroganz vom Tisch gewischt werden. Ganghofer, Thoma - ungeeignet für niveauvolle Schauspielkunst? Einer, der da anders denkt, ist Christian Stückl.
Nach der "Geierwally" im vergangenen Jahr (mit großem Publikumszuspruch) hat der Oberammergauer nun an "seinem" Münchner Volkstheater die Geschichte des legendären Räubers Mathias Kneißl erarbeitet, nach einer Vorlage von Martin Sperr. Stückl will eine "Kontinuität mit bayerischen Stoffen schaffen", auch deswegen, weil die Kammerspiele und das Staatsschauspiel diesen Sektor nicht anbieten. Volkstheater ist Volkstheater.
Mit dabei beim "Räuber Kneißl" (nächste Aufführungstermine 23. und 25. Dezember, 19.30 Uhr) sind auch wieder aus Oberammergau Ursula Burkhart (spielt die Mutter Kneißls) sowie Hubert Schmid, der einen Schreiner darstellt. Nicht zu vergessen die Jungen Riederinger Musikanten, die schon der "Geierwally" ihren Stempel aufdrückten.
Im "Kneißl" erzählt Christian Stückl das kurze und bewegte Leben des "Schachermühl-Hiasl", der mit 18 Jahren zu Unrecht zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren verurteilt wird. Nach seiner Entlassung findet er als ehemaliger Häftling keine dauerhafte Arbeit. Er wird kriminell und bereits nach kurzer Zeit zum meistgesuchten Mann Bayerns. Seine spektakuläre Flucht vor der Polizei hält das ganze Land in Atem und macht ihn schon zu Lebzeiten zum Volkshelden. Mit 26 Jahren schließlich findet Kneißl auf dem Schafott sein Ende, als Symbolfigur des Kampfes der kleinen Leute gegen die Obrigkeit.
Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der versucht, sich von den Zwängen seines Umfeldes zu befreien. Diese Befreiung mündet in Kriminalität. 1902 lehnt Prinzregent Luitpold ein Gnadengesuch ab: Mathias Kneißl wird zur Guillotine geführt.
Ludwig Hutter, Münchner Merkur, 15. Dezember 2003

Maxi Brückner als Mathias Kneißl
Photos: © Johannes Seyerlein

Die letzte Vorstellung war vermutlich am Freitag, den 18. Mai 2007.

Trivia:
- Die Öffnung im Bühnenboden des Volkstheaters, die als Odelgrube ausgesägt worden war, ist bei der Renovierung im Sommer 2009 beseitigt worden.
- In der Inszenierung "Zuag'richt ... herg'richt ... hig'richt" von Georg Meier der Münchner Iberl Bühne von 1988 spielte Hans Schuler den Kneißl Hias, der hier bei einem Bader Hilfe sucht, und mit dessen Hilfe noch einmal der Obrigkeit entkommen kann, wobei die Zenz, das Mündel des Baders, eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Interessanterweise schaut in dieser Version auch der Boandlkramer vorbei. - In der Verfilmung von Marcus H. Rosenmüller, "Räuber Kneissl", die im August 2008 in die Kinos kam, spielte Maxi wieder den Mathias Kneissl, und Florian wieder seinen Bruder Alois, Hans Schuler darin den Schneider-Bauern und Peter Mitterrutzner den Fahrer des Odelwagens. Ausserdem waren noch Isabella Brückner als Cilly Kneissl und Franz-Xaver Brückner als Sauerkraut-Essender mit dabei. Und hätte Maxi keine Zeit gehabt oder nicht gewollt, wäre der Film nach Aussage vom Rosi vermutlich nicht entstanden.


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Seite erstellt am 8. November 2009 von EFi zurück
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